Die künstlerischen Leiterinnen der Schwankhalle Bremen Anna K. Becker und Katrin Hylla im Gespräch mit Christine Wahl
Anna K. Becker, Katrin Hylla, herzlichen Glückwunsch zum Theaterpreis des Bundes – und zum Auftakt eine Frage, die in dieser Interviewreihe allen Ausgezeichneten gleichermaßen gestellt wird: Können Sie eine Besonderheit benennen, die Ihr Theater unverwechselbar macht, ein Alleinstellungsmerkmal, das wirklich nur bei Ihnen existiert?
Anna K. Becker: Wir haben hier eine absolut einmalige Zusatzbühne, und zwar gratis! Direkt an unserem Haus befindet sich nämlich der Werdersee – den wir zur Eröffnung unserer Leitungszeit auch bespielt haben. Man muss nur einmal über den Deich – großartig!
Katrin Hylla: Etwas anderes, wovon ich zwar nicht weiß, ob es das tatsächlich nur bei uns gibt, was ich aber auf jeden Fall als eine große Besonderheit empfinde, ist der „Schwankcore“, unser hauseigener Chor, der als Community- oder Nachbar*innen-Projekt angefangen und inzwischen eine fantastische Eigendynamik entwickelt hat. Der besteht zurzeit aus 100 Leuten zwischen 20 und 72 Jahren, und falls dieses Modell bisher wirklich noch nirgendwo anders existieren sollte, gebe ich es hiermit frei und empfehle es dringend zur Nachahmung. Es macht unglaublichen Spaß!
Was ist das Spezifische daran?
Hylla: Als wir vor zwei Jahren die Leitung der Schwankhalle übernahmen, dachten wir: Toll, jetzt wohnen wir endlich mal stabil in einer Stadt und müssen nicht mehr so viel herumfahren wie früher als freie Künstlerinnen; lass uns doch, wo wir wieder regelmäßig an Proben teilnehmen könnten, einen Chor gründen! Also haben wir einen offenen Aufruf gestartet und beim ersten Treffen mit ungefähr 20 Leuten gerechnet. Es kamen aber 68! Einige, weil sie einfach Lust zum Singen hatten, andere, weil sie vielleicht sozialen Anschluss suchten, und wieder andere, weil der Chor in der direkten Nachbar*innenschaft stattfindet.
Bei so vielen verschiedenen Menschen prallten natürlich auch die unterschiedlichsten Vorstellungen aufeinander, was hier eigentlich gesungen werden soll. Wir wollten aber auf keinen Fall die Chor-Kuratorinnen sein, sondern es war uns wichtig, dass die Leute sich selbst organisieren. Inzwischen hat sich unter der Leitung von Mara Hebel eine Programmgruppe gebildet, bei der Vorschläge eingereicht werden können, über die dann im gesamten Chor diskutiert und entschieden wird. Außerdem gibt es demnächst fünf Uraufführungen professioneller Komponistinnen, die eigens für den Schwankcore mit seinen komplett unterschiedlichen Stimmen und Professionalitätslevels jeweils eine Komposition zum Thema Wasser geschrieben haben.
Zu den Besonderheiten der Schwankhalle dürfte auch ihr Trägerverein gehören: Er hat den schönen Namen „Neugier e. V.“.
Hylla: So heißt der aber schon sehr lange, das ist also nicht unsere Erfindung.
Becker: Was allerdings nichts daran ändert, dass der Name ja ab und zu durchaus Programm sein soll! (Lacht) Eine schöne Neugier-Aktion für viele Menschen war zum Beispiel das Gastspiel „Baggern“ der Gruppe Studio Urbanistan letzten Herbst, ein audiovisuelles Baggerballett für drei Mütter, das wir in einer Baubrache in Schwankhallen-Nähe gezeigt haben, zwischen einem Aldi und einem Rewe. Da hatten wir schon allein deshalb bei jeder Aufführung völlig unterschiedliches Publikum, weil es natürlich viele Bauzaungäst*innen gab, die eigentlich gerade dabei waren, ihre Einkäufe ins Auto zu räumen, dann aber interessiert stehenblieben, weil sie sich fragten: Was ist denn hier los? Was tun diese baggernden Frauen? Das freut uns immer besonders, wenn wir selbst Neugier schüren und auf diese Art ins Gespräch kommen können.
In der Schwankhalle findet eine ungeheure Vielfalt an Vorstellungen und Aktivitäten statt. Können Sie Ihr Programm dennoch auf einen Punkt bringen?
Hylla: Wo Shantychor, Bootsballett und zeitgenössische Performance aufeinandertreffen – das wäre so eine Überschrift, die ziemlich genau zusammenfasst, worum es uns geht. Darin steckt einerseits globales Denken, also der Blick in die ganze Welt – und andererseits der Ansatz, gleichzeitig lokal angebunden zu sein, im Austausch mit hiesigen Initiativen, Künstler*innen und Nachbar*innen Begegnungsformate zu schaffen. Wichtig ist uns dabei aber immer, dass die Kunst nicht verzweckt wird, dass sie eben nicht nur als Vehikel dient, um beispielsweise Leute zusammenzubringen. Das kann sie natürlich auch, muss sie aber nicht. Immer wieder dafür zu sorgen, dass es Kunst-Kunst gibt, die frei ist von Ansprüchen oder Zuschreibungen, gehört auch zu unseren Anliegen.
Becker: Als zentralen Punkt empfinde ich, dass wir ein prinzipielles Zuständigkeitsgefühl haben und das auch nach außen transportieren, dass wir uns immer wieder Feedback, Meinungen und Bedarfe einholen. Es werden ja niemals allen Leute alle Stücke gefallen, und es muss auch gar nicht sein, dass man jedesmal, wenn man hier rausgeht, sagt: Das war mein Ding! Viel wichtiger ist, dass wir als Ort grundsätzlich zuständig für unterschiedliche Publika und unterschiedliche Künstler*innen sind. Es gibt ja Häuser, wo man vorher genau weiß, welche Art von Kunst einen dort erwartet – und das kann auch durchaus toll sein, das genieße ich manchmal selbst. Aber unser erstes Ziel ist das hier eben nicht, im Gegenteil.
Hylla: Ich glaube, wir können tatsächlich sagen, dass wir eine Art Anti-Bubbling-Programm machen. Bestehende Peer Groups und Interessensgruppen aufzubrechen und unerwartete Begegnungen zu ermöglichen – das würde auf jeden Fall ganz oben stehen, wenn wir jetzt ein Motivationsschreiben für die Schwankhalle verfassen müssten.
Sie betonen immer wieder, wie wichtig Ihnen die Öffnung Ihres Hauses in allen erdenklichen Hinsichten ist. Auch, weil die Schwankhalle – wie es in Ihrer Selbstbeschreibung heißt – in der Bremer Neustadt als einem Ort mit vielen einkommensschwächeren Haushalten angesiedelt ist.
Becker: Das stimmt, und diese Öffnungsbestrebungen umfassen mehrere Ebenen. Eine ganz praktische und sehr konkrete Maßnahme, die schon unter unseren Vorgängerinnen begonnen wurde, besteht zum Beispiel darin, dass wir ein solidarisches Preissystem haben. Das ist, auch im Vergleich zu anderen freien Häusern, wirklich sehr günstig und basiert darauf, dass Beiträge nach Selbsteinschätzung geleistet werden, es muss also auch nichts nachgewiesen werden. Zusätzlich gibt es ohnehin eine Vielzahl kostenfreier Veranstaltungen, gerade, was Workshops betrifft. Allerdings ist die Frage, wer es sich überhaupt leisten kann, ins Theater zu gehen, nur die erste unter vielen. Weiter geht es mit dem Punkt, wer eigentlich zu welcher Uhrzeit in der Lage ist, zu uns zu kommen. Deshalb haben wir zum Beispiel Nachmittagsformate etabliert und speziell den Sonntag, 16 Uhr, als eine besonders familien*freundliche Aufführungszeit auserkoren – wo es dann auch eine kostenfreie Kinderbetreuung gibt.
Hylla: Nachmittagsaufführungen sind übrigens nicht nur für Familien* interessant, sondern auch für Menschen, die gerne im Hellen ins Theater und auch im Hellen wieder nach Hause gehen möchten. Eine weitere Öffnungsinitiative, die wir vor allem durch NEUSTART-KULTUR-Mittel initiieren konnten und die sich jetzt mit dem Theaterpreisgeld vielleicht verstetigen lässt, sind Audiodeskriptionen für blinde und sehbeeinträchtigte Menschen und Übersetzungen in Gebärdensprache für gehörlose Menschen. Trotzdem bleibt im Bereich Barrierenabbau noch viel Arbeit.
Darüber hinaus gibt es natürlich auch andere Ebenen, auf denen wir einfachere und transparentere Zugänge schaffen wollen. Mich fragte zum Beispiel einmal eine Person im Anschluss an eine Veranstaltung: Wie schaffe ich es denn überhaupt, hineinzukommen in die Schwankhalle? Was muss ich schon gemacht haben, wo muss ich überall gewesen sein oder wen muss ich heiraten, um hier auftreten zu dürfen? (Lacht) Seitdem biete ich einmal im Monat eine Sprechstunde an, für die sich im Vorfeld jede*r mit allen erdenklichen Fragen anmelden kann.
Apropos: Wie sind Sie selbst eigentlich zum Theater – und schließlich in die Schwankhalle – gekommen?
Hylla: Mein Weg zur Regie und später in die künstlerische Leitung führte über die Schauspielerei. Als ich vor über 20 Jahren in diesen Beruf startete, galt es allerdings leider nicht als Tugend oder auch nur als gern gesehenes Mitbringsel einer Schauspielerin, selbst zu denken, sondern das wurde im Gegenteil eher als Bremsklotz und Hindernis wahrgenommen. Deshalb habe ich mich von dieser Beschäftigung schnell verabschiedet und angefangen, eigene Produktionen zu entwickeln. Dann bin ich noch einmal zum Studium gegangen – zu den Denker*innen nach Gießen.
Sie haben auch am dortigen Institut für Angewandte Theaterwissenschaften studiert, Anna K. Becker.
Becker: Ja, weil ich durch einen Zufall davon erfahren hatte. Ich wollte eigentlich Filmregisseurin werden und habe deshalb als Jugendliche bei einer Filmproduktion hospitiert. Dort stellte ich fest, dass die Regie eigentlich gar nichts zu sagen hat: Wenn der Produzent meinte, jetzt ist der Geldhahn zu, wurde die Szene umgeschrieben. Das fand ich ziemlich ernüchternd und dachte, beim Theater ist ja alles ein bisschen kleiner und deshalb vielleicht auch selbstbestimmter. Als ich aber bei meiner ersten Bewerbung an einer Regieschule die Aufgabe bekam, ein Regiekonzept für den „Zerbrochnen Krug“ zu schreiben, war ich auch ziemlich ratlos. Über einen Zufall kam ich dann glücklicherweise zu einem Praktikum ans tanzhaus nrw und sah dort eine zeitgenössische Performance, bei der ich nur dachte: Wow, was ist das denn? Das ist ja unfassbar spannend! Eine der Macherinnen hatte in Gießen studiert. Nach dem Künstler*innengespräch löcherte ich sie, was dieses Gießen genau sei und wie man dort hinkäme.
Wenn man Ihnen zuhört, scheint alles hervorragend zu laufen in der Schwankhalle. Worin bestehen denn zurzeit Ihre größten Herausforderungen?
Hylla: Darin, nicht zu vergessen, dass wir nicht die 360 Grad sind – also immer wieder zu schauen: Wie kann unsere Perspektive, die von unseren Backgrounds, Herkünften, Privilegien Vorlieben und allem möglichen Anderen geprägt ist, immer wieder aufgemischt werden? Darin besteht auch eine unserer Ideen für das Preisgeld: weiter und konkreter über unsere Projektidee eines Programmbeirats nachzudenken, die uns schon länger beschäftigt.
Wie weit sind Ihre Pläne denn bis jetzt gediehen?
Hylla: Wir überlegen gerade, wie ein geeignetes Modell genau aussehen könnte. Wäre es zum Beispiel gut, wenn von unseren jährlichen Gastspielen einige nicht von uns kuratiert, sondern eben von dem Programmbeirat empfohlen würden? Und wie ließe sich ein solches Verfahren für die Praxis entwickeln, welche Menschen mit welchen Perspektiven sollten da vertreten sein, was bräuchten sie, wie können sie dauerhaft angemessen bezahlt werden, und wie sähe die Organisation einer solchen Struktur – vielleicht über Bremen hinaus – aus?
Gibt es noch weitere Projekte, in die Sie das Theaterpreis-Geld investieren wollen?
Becker: Wir freuen uns auf jeden Fall riesig über den Preis, weil er eine großartige Anerkennung unserer Arbeit ist – und damit meine ich das ganze Team, das uns hier übrigens auch unglaublich warmherzig und gastfreundlich empfangen hat, als wir vor zwei Jahren anfingen.
Und was das Preisgeld betrifft: Diese Überlegungen finden nicht nur auf kuratorischer Ebene statt, sondern beziehen alle Gewerke des Hauses mit ein. Die Bedarfs- und Wunschliste ist eröffnet – und wird zusehends voller.