Ein Königreich für einen Theaterstuhl

von Christine Wahl

Die Intendantin des Ernst-Barlach-Theaters Güstrow Johanna Sandberg im Gespräch mit Christine Wahl über das Engagement der Bürger*innen von Güstrow für ihr 200 Jahre altes Theater.

Johanna Sandberg, herzlichen Glückwunsch zum Theaterpreis des Bundes in der Kategorie Privattheater und Gastspielhäuser – und zum Auftakt eine Frage, die in dieser Interviewreihe allen Ausgezeichneten gleichermaßen gestellt wird: Können Sie eine Besonderheit benennen, die Ihr Theater unverwechselbar macht, ein Alleinstellungsmerkmal, das wirklich nur bei Ihnen existiert?

Johanna Sandberg: Da fallen mir spontan zwei Dinge ein. Zum einen, dass unser Haus 1828 mit Spendengeldern der Güstrower Bürger erbaut wurde – ein Vorgang, der zum damaligen Zeitpunkt absolut außergewöhnlich war. Die Schönemann‘sche Gesellschaft, die in Schwerin die erste Schauspielakademie Deutschlands begründete, trat zwar auch regelmäßig in Güstrow auf – die erste Aufführung ist durch einen Theaterzettel für das Jahr 1740 nachweisbar. Es gab aber keinen festen Ort, gespielt wurde zum Beispiel im Rathaussaal. Dass die Güstrower – deren Stadt damals gerade um die 8.000 Einwohner zählte – dann von sich aus die Initiative ergriffen, ein eigenes Theater zu errichten, um den Wandertruppen eine angemessene Spielstätte zu bieten, finde ich sehr beeindruckend.

Außenansicht des Ernst-Barlach-Theaters.
© Steffen Goitzsche

Worin liegt die zweite Besonderheit des Ernst-Barlach-Theaters?

Sandberg: Die hängt direkt mit dieser frühen Bauzeit zusammen und besteht darin, dass es bei uns keinen „Eisernen“ gibt. Natürlich haben auch wir einen Schutzvorhang – aber eben keinen metallischen wie die Theater, die später erbaut worden sind.

Der Schauspieler und Sänger Hans Albers gab – damals noch völlig unbekannt – in der Spielzeit 1912/1913 mit 21 Jahren sein Debüt am Güstrower Theater und erwies sich dabei laut Wikipedia als echter Multitasker: Für seine Monatsgage, die zwischen 60 und 120 Mark betrug, half er über das Spielen hinaus auch bei Bühnenarbeiten.

Sandberg (lacht): Ja, das kann ich mir gut vorstellen; ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen.

Von leidenschaftlichen Multitaskerinnen und Multitaskern wird das Ernst-Barlach-Theater – auf eine andere Weise – indes bis heute getragen: Es gibt, Sie eingeschlossen, lediglich vier fest angestellte Mitarbeitende an Ihrem Haus, die alle über vielfältige Kompetenzen verfügen.

Sandberg: Das stimmt. Unser technischer Mitarbeiter ist gleichzeitig der Hausgrafiker, und die Kollegin, die für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist, übernimmt auch Teile der Verwaltungsarbeit – genau wie die Mitarbeiterin an der Theaterkasse.

Umso bemerkenswerter, dass Sie es in dieser kleinen Belegschaft schaffen, ein Theater zu betreiben, das mehr als 100 verschiedene Aufführungen pro Jahr zeigt! Das funktioniert nur mit viel Herzblut aller Beteiligten, oder?

Sandberg: Ja, eine Menge Herzblut ist auf jeden Fall dabei, das kann ich für mein Team hundertprozentig bestätigen. Was soll ich sagen: Wir tun es einfach! (Lacht)

Tatsächlich tun Sie sogar vieles, was über einen gängigen Gastspieltheaterbetrieb hinausgeht. Zum Beispiel bieten Sie Theatergruppen und Ensembles, die bei Ihnen spielen, die Möglichkeit, die Wiederaufnahmeproben an Ihrem Haus zu realisieren – die dann auch für Publikum geöffnet werden.

Sandberg: Ja, mich hat der Probenprozess schon immer fasziniert. Als dann eine Anfrage von einem Tourneetheater kam, die Wiederaufnahmeproben bei uns durchzuführen, habe ich sofort zugestimmt. Eine Bedingung war allerdings, dass wir die Proben öffnen können, um Schüler und Schülerinnen daran teilhaben zu lassen. Die jungen Menschen sollten dabei auch mit den Künstlern ins Gespräch kommen können. Die Endprobenphase ist sehr sensibel, aber der Regisseur und die Schauspieler haben sich sofort einverstanden erklärt.

Wie wird dieses Angebot vom Publikum angenommen?

Sandberg: Es kommt sehr gut an. Nach dem allerersten Probenbesuch – das Hamburger Ernst-Deutsch-Theater gastierte mit Daniel Kehlmanns „Tyll“ bei uns – erzählte mir eine Lehrerin, manche Schülerinnen und Schüler seien enttäuscht gewesen, dass sie nur einige Szenen zu sehen bekamen, und hätten gefragt: Aber warum ging es denn nicht weiter? Wir wollten doch das ganze Stück sehen! Der Probenbesuch hatte an einem Vormittag stattgefunden, zwei Tage vor der Gastspielpremiere, die auf einem Samstagabend lag. Da kommen Schülerinnen und Schüler eigentlich äußerst selten zu uns. Denn abgesehen davon, dass junge Leute einen Theaterbesuch meist nicht als Freizeitbeschäftigung ansehen, befinden wir uns hier in einer ländlichen Region. Viele müssen vom Dorf mit dem Auto in die Stadt fahren. Wenn die Eltern nicht selbst ins Theater gehen, kommen auch die Jugendlichen nicht. Aber an jenem Samstag waren bei der „Tyll“-Premiere dann überraschenderweise 18 ermäßigte Karten verkauft worden! Das heißt: Mehr als ein Drittel der 50 Schülerinnen und Schüler, die beim Probenbesuch waren, sind zur Premiere gekommen, um die komplette Vorstellung zu sehen.

Performer*innen auf einer Bühne, die mit wenigen Holzstümpfen und einem rot gemusterten Teppich ausgestattet ist. Die Frauen tragen Reifröcke und Stehkragen. Die Männer tragen festliche Gewänder des 19. Jahrhunderts. Die Person im Zentrum ist einfach gekleidet und hat eine rote Narrenkappe auf dem Kopf.
© Oliver Fantitsch

Welches Publikum kommt denn über spontan probeninfizierte Jugendliche hinaus zu Ihnen? Ihr Haus ist ja das einzige Theater in einem Umkreis von 45 Kilometern. Die nächste Spielstätte ist das Volkstheater Rostock, Sie haben also ein großes Einzugsgebiet.

Sandberg: Wer zu uns kommt, das hängt vom jeweiligen Programm ab. Wir sind – als Gastspieltheater – so etwas wie ein kleines Mehrspartenhaus. Wir bieten alles: vom Schauspiel übers Musiktheater bis zum Sinfoniekonzert, vom niederdeutschen Theater über Tanz bis zu Rock und Pop, vom Diavortrag bis zum Kabarett, vom Neuen Zirkus bis zum Theater speziell für Kinder und Jugendliche. Darin besteht ja auch unser Auftrag: ein Programm zu zeigen, in dem sich alle wiederfinden.

Obwohl Sie die Intendanz des Ernst-Barlach-Theaters während der Coronazeit und damit im Lockdown übernommen haben – zu Beginn des Jahres 2021 – ist es Ihnen gelungen, zusätzlich eigene Programmschwerpunkte zu etablieren, zum Beispiel ein neues Schauspiel-Abonnement.

Sandberg: Das ist tatsächlich ein Herzensprojekt von mir! Seit der Spielzeit 2022/2023 bieten wir im Rahmen dieses Abos vier hochkarätige Schauspielproduktionen pro Saison an – mit vorherigen Einführungen im Foyer, um das Publikum mit den unterschiedlichen Arbeitsweisen und künstlerischen Handschriften der Tourneetheater vertraut zu machen.
Mitten im Lockdown eine neue Schauspielreihe zu planen, war schon etwas gewagt. Nicht zuletzt, weil ich das Publikum nicht kennenlernen konnte. Die Theater waren ja alle geschlossen. Aber ich habe mich auf die musische und künstlerische Tradition der Stadt verlassen – und bei der Auswahl der Stücke zunächst davon leiten lassen, welche Themen für Erwachsene und Jugendliche gleichermaßen geeignet sind. So war eine der ersten Produktionen, die ich hier gezeigt habe, „Die Physiker“ von Friedrich Dürrenmatt. Mitunter habe ich die Stücke auch nach persönlichen Vorlieben ausgesucht wie z.B. eine Inszenierung von Shakespeares „Richard III.“. Eine solche Entscheidung zu treffen, ist nicht immer leicht, da man im Tourneetheaterbetrieb die Aufführungen oftmals ungesehen bucht – entweder, weil man keine Gelegenheit hat, sie vorher anzuschauen, oder weil sie noch gar nicht produziert worden sind.

Sie haben sich dabei von Anfang an als enorm treffsicher erwiesen: Viele Ihrer Vorstellungen waren und sind ausverkauft. Gibt es trotzdem Herausforderungen, mit denen Sie aktuell zu kämpfen haben?

Sandberg: Unsere größte Herausforderung besteht darin, dass unser Haus sanierungsbedürftig ist, dafür aber leider die Mittel fehlen. Das Nebengebäude im Hinterhof, in dem sich auch die Künstlergarderoben befinden, ist baufällig. Es ist vorgesehen, dass es durch einen Neubau ersetzt wird. Der Förderantrag, auf den sich die Stadt Güstrow und der Landkreis für die Sanierung verständigt haben, wurde aber leider nicht bewilligt. Trotzdem freue ich mich über die Kooperation, die Stadt und Landkreis in diesem Punkt eingegangen sind.

Das ist demnach nicht immer der Fall?

Sandberg: Das Ernst-Barlach-Theater Güstrow wird vom Landkreis Rostock getragen – was tatsächlich eine besondere Situation darstellt: Die meisten Häuser sind ja städtisch, werden also von einer Kommune getragen, und nur diese ist dann auch bei den meisten Förderprogrammen antragsberechtigt. Die Ausgaben des Landkreises wiederum müssen vom Kreistag bewilligt werden – der die Höhe der Kreisumlage kritisiert. Da suchen die Bürgermeister natürlich nach Einsparpotenzial, und an diesem Punkt werden immer die „freiwilligen Leistungen“ infrage gestellt, zu denen die Kulturausgaben zählen.

Es gab sogar schon Forderungen, das Ernst-Barlach-Theater zu schließen.

Sandberg: Dazu muss man wissen, dass der Landkreis Rostock sehr groß ist. Der Vorschlag kam von Bürgermeistern, deren Gemeinden am anderen Ende des Landkreises liegen und die unser Theater kaum kennen. Glücklicherweise scheint diese Diskussion überwunden zu sein, aber der Vorschlag beschreibt die Situation, die ich vorgefunden habe, als ich 2021 ans Haus kam. Mein Ziel war und ist, das Renommee und den Stellenwert des Theaters zu erhöhen, und das kann nur durch ein gutes Programm gelingen.

Sie klingen erstaunlich unaufgeregt.

Sandberg: Ich betrachte das einfach als Herausforderung und Ansporn, noch mehr Menschen für die darstellenden und musischen Künste zu begeistern. Insofern freue ich mich umso mehr, dass es jetzt so aussieht, als könnten wir zu einer produktiven Zusammenarbeit kommen und die Zukunft des Theaters als gemeinschaftliche Aufgabe von Stadt und Landkreis definieren. Zumal laut einer Besucherumfrage, die wir durchgeführt haben, tatsächlich 52 Prozent unserer Zuschauer aus dem Landkreis stammen, während 48 Prozent direkt aus Güstrow kommen.
Aber von alledem einmal ganz abgesehen, berührt und bestärkt es mich immer wieder, wie leidenschaftlich sich die Menschen hier für ihr Theater engagieren, wie deutlich die nahezu 200-jährige Geschichte des Hauses als Bürgertheater nicht nur eine schöne Tradition, sondern bis heute gelebte Praxis ist. So sind bei unserer Spendenaktion zur Sanierung der Theaterstühle fast 100.000 € zusammengekommen.

Wie sah die Aktion genau aus?

Sandberg: Der Theaterförderverein hat gemeinsam mit dem Landkreis vor einem Jahr die Spendenaktion ins Leben gerufen und Stuhlpatenschaften ausgeschrieben, über 250 Euro pro Stuhl. Einer der ersten Spender sagte sinngemäß: Wunderbar, das Weihnachtsgeschenkproblem ist gelöst – jeder in der Familie bekommt jetzt einen Theaterstuhl! Eine Spende kam sogar aus den USA – von einer gebürtigen Güstrowerin, die inzwischen dort lebt und über Umwege von unserer Aktion erfahren hatte.

Was bedeutet Ihnen die Auszeichnung in der Kategorie “Privattheater und Gastspielhäuser”?

Sandberg: Die Auszeichnung bedeutet meinem Team und mir sehr viel. Sie ist nicht nur eine Bestätigung unserer bisherigen Arbeit, sondern auch eine wichtige Unterstützung bei unseren zukünftigen Vorhaben.

Neben dem symbolischen Kapital geht der Preis auch mit 100.000 € einher. Haben Sie das Geld schon verplant?

Sandberg: Ich möchte gern den Bereich der kulturellen Bildung weiter ausbauen und Theaterkurse anbieten. Danach werde ich auch immer wieder gefragt – vor allem von Eltern, die sich das für ihre Kinder wünschen. Bisher war es aus finanziellen Gründen leider nicht möglich, aber mit dem Preisgeld können wir das jetzt realisieren. Ich würde ja am liebsten Theaterkurse für sämtliche Generationen organisieren, von Kindern über Jugendliche bis hin zu Senioren. 2028 feiert das Ernst-Barlach-Theater sein 200jähriges Jubiläum. Wenn wir das vorher etablieren und dann alle gemeinsam eine Aufführung zeigen könnten – das wäre fantastisch! Zwar weiß ich schon jetzt nicht, wo mir vor Arbeit der Kopf steht. (Lacht) Aber träumen darf – und muss – man immer!