Die Jurymitglieder Tessa Hart und Michael Lang im Gespräch mit Christine Wahl
Tessa Hart, Michael Lang, Sie haben gemeinsam mit sieben anderen Jurymitgliedern aus insgesamt 61 Bewerbungen den Theaterpreis des Bundes gekürt. Vor Ihrer Entscheidungssitzung standen noch neun Häuser auf der Shortlist. Hatte die Jurydebatte Marathon-Charakter – oder waren Sie sich schnell einig?
Tessa Hart: Angesetzt waren vier Stunden, und ehrlich gesagt weiß ich nicht mehr, ob und wie lange wir überzogen haben (lacht). Woran ich mich aber gut erinnere, das sind die intensiven und wertschätzenden Jurygespräche: Wir hörten einander wirklich aufmerksam zu und ließen die Argumente der Kolleg*innen in Ruhe auf uns wirken. Ich hatte zu keiner Zeit das Gefühl, unter Druck zu stehen und innerhalb der nächsten Minuten eine Entscheidung fällen zu müssen. Dass die Sitzung so organisch verlief – obwohl sich das Bild eigentlich ständig veränderte, weil immer wieder neue Aspekte in die Runde geworfen wurden –, lag sicher auch daran, dass zuallererst einmal jedes in der Endauswahl befindliche Haus von einem Jurymitglied vorgestellt und anschließend in der Runde intensiv besprochen wurde. Das fand ich extrem wichtig, um die verschiedenen Perspektiven kennenzulernen, bevor es zum Schluss in die Abstimmungsphase ging.
Michael Lang, wissen Sie noch, wie lange es dauerte, bis Sie die Entscheidung über den Hauptpreis und drei Auszeichnungen in spezifischen Sparten gefällt hatten?
Michael Lang: Ich kann nur alles unterstreichen, was Tessa sagte. Zumal es am Ende auch darum ging, ein stimmiges Gesamtbild zu erzeugen. Für einen Theaterpreis und drei Auszeichnungen des Bundes wäre es ja wenig hilfreich, wenn man zum Beispiel mehrere Preisträger nur aus Metropolen auswählen würde, in denen Theater unter völlig anderen Bedingungen produziert werden kann als in ländlichen Gebieten. Insofern hatte jede Richtung, die man in der Diskussion um den Hauptpreis einschlug, direkt Konsequenzen für alle anderen potenziellen Auszeichnungen, sodass man immer viele Aspekte gleichzeitig im Blick behalten musste. Und bei alledem haben wir uns bemüht, weitgehend einstimmige Entscheidungen zu treffen. Kampfabstimmungen wurden vermieden; es gab kein Jurymitglied, das sich auf Kosten anderer profilieren und einen bestimmten Kandidaten unbedingt durchsetzen wollte.
Das klingt außerordentlich harmonisch.
Lang: Es gab tatsächlich eine große Neugier nebst der Bereitschaft, sich guten Argumenten nicht zu verschließen und ihnen bei den eigenen Entscheidungen entsprechend Rechnung zu tragen. Wobei es mir an diesem Punkt wichtig ist zu betonen, dass man prinzipiell allen 61 Häusern, die sich um den Theaterpreis des Bundes beworben haben, nur den allergrößten Respekt zollen kann. Denn hinter jeder Einsendung stecken ja nicht nur die mit hohem Aufwand zusammengestellten Bewerbungsunterlagen, sondern vor allem eine derart intensive langjährige Kulturarbeit, dass man am liebsten noch viel mehr Preise vergeben würde! Insbesondere Motivationspreise, um zu signalisieren: Es hat zwar aus den unterschiedlichsten Gründen diesmal nicht für den Preis oder eine der drei Auszeichnungen gereicht, aber die Jury ist sich bewusst, was für herausragende Leistungen in all den Häusern erbracht werden. Und man möchte jedes einzelne davon unbedingt ermutigen, sich beim nächsten Mal wieder zu bewerben.

Die Jury wurde bewusst vielfältig besetzt. Sie, Tessa Hart, sind zum Beispiel – wie Sie es selbst nennen – eine in Ostberlin geborene „Kulturmacher!n und -wand(l)er!n“ zwischen freier Szene, Stadt- und Staatstheater, während Sie, Michael Lang, mit dem Hamburger Ohnsorg-Theater eine Privatbühne leiten – und zwar nicht die erste in Ihrer Berufslaufbahn. Wie haben sich die verschiedenen Perspektiven auf die Arbeit ausgewirkt?
Lang: Jurys haben sich über die letzten zwanzig Jahr hinweg tatsächlich stark verändert, und dass sie wesentlich vielfältiger geworden sind, bringt natürlich auch neue Themenschwerpunkte mit sich. Führungsstrukturen, Diversität, Internationalität, partizipatives Arbeiten – dass solche Aspekte, um die es früher deutlich weniger ging, jetzt im Fokus stehen, ist für mich außerordentlich spannend und lehrreich. Nicht nur, weil man sich mit interessanten Produktionen und Formaten an Häusern auseinandersetzt, die man bisher noch nicht so selbstverständlich im Blick hatte, sondern auch, weil man – bei der Lektüre der Bewerbungen genauso wie innerhalb der Jury – Theatermenschen kennenlernt, die Themen mit ganz anderen Mitteln und auf völlig anderen Wegen bearbeiten, als man das selbst in den letzten zwei Jahrzehnten getan hat.
Sie sagten, die Juryarbeit sei für Sie „lehrreich“ gewesen. Was haben Sie konkret gelernt?
Lang: Es gab zum Beispiel eine Bühne, die zwar jetzt nicht unter den Preisträgern ist und die ich deshalb auch nicht namentlich nennen will, die mir persönlich aber ungeheuer eindrucksvoll gezeigt hat, wie gut Regionalität und Internationalität zusammenpassen und wie man den oftmals eher negativ konnotierten Begriff „Heimat“ zeitgemäß denken und besetzen kann. Weil dieses Thema der regionalen Spezialität im Rahmen einer großen Vielfalt genau das ist, was auch mein Team und mich am Ohnsorg Theater beschäftigt, war das vor dem Hintergrund meiner eigenen Kulturarbeit für mich besonders inspirierend.
Tessa Hart, was hat die bewusst heterogene Juryzusammensetzung aus Ihrer Sicht bewirkt?
Hart: Die Verschiedenheit der Blickwinkel hat zu einer sehr hohen Expertisenvielfalt geführt. Dass Perspektiven präsent waren, die jeweils bestimmte Arbeitsweisen sachkundiger einschätzen konnten, weil sie sie im Zweifel aus der eigenen Praxis kannten, war nicht nur wertvoll, sondern geradezu essenziell.
Aber es gab doch sicher auch Streitpunkte?
Lang: Ehrlich gesagt, kann ich mich an keinen Streit erinnern. Was es gab, waren Annäherungsprozesse – also dass man an bestimmten Punkten mal eine Pause machte, damit alle die eigene Position in Ruhe überdenken und anschließend in einem neuen Licht gemeinsam weiterdiskutieren konnten. Wir waren, wie gesagt, immer bestrebt, so lange im Gespräch zu bleiben, bis wir zu einem Ergebnis kamen, hinter dem alle Jurorinnen und Juroren gleichermaßen stehen konnten.
Streit kann ja auch respektvoll und produktiv sein. Erinnern Sie sich an entsprechende Auseinandersetzungen, Tessa Hart?
Hart: Mir fällt auch keine Situation ein, in der es Streit gegeben hätte. Im Gegenteil: Wenn eine Person eine bestimmte Sichtweise auf einen Ort hatte und eine andere diesbezüglich noch einmal einen anderen Kontext bieten konnte, haben alle sehr dankbar zugehört.

Das Anforderungsprofil für den „Theaterpreis des Bundes“ ist komplex. Gefragt ist laut Ausschreibungstext „ein herausragendes Programm …, das sich durch überzeugende ästhetisch-künstlerische Fortentwicklung in zeitgenössischen Fragestellungen der (Stadt-)Gesellschaft, der multiperspektivischen Publika, der ökologischen und sozialen Achtsamkeit und/oder technologisch-digitaler Innovationen auszeichnet“. Welcher dieser Aspekte war Ihnen jeweils besonders wichtig, worauf haben Sie am stärksten geschaut?
Hart: Es gab auf keinen Fall das Kriterium, das dann von außen auf alle Häuser angewendet wurde, sondern wir haben die Nominierungen wirklich ganz individuell aus ihren je eigenen Bedingungen und Zusammenhängen heraus betrachtet: Was sticht besonders hervor, wo liegt die jeweils eigene Stärke? Bei dem einen Haus stand vielleicht das Erproben eines neuen Leitungsmodells im Vordergrund, während bei einem anderen der Fokus stärker auf Transformationsprozessen lag oder auf der Einbindung neuer Publika.
Wobei die schwierige Vergleichbarkeit, die mit dem hohen Individualitätsgrad einhergeht, die Entscheidung ja sicher nicht leichter macht – eher im Gegenteil. Welche Kriterien haben Sie jeweils für sich entwickelt, als Sie mit der Lektüre der Bewerbungen begannen?
Lang: Für mich war immer die erste Frage: Wie sieht die Leistung unter den spezifischen Rahmenbedingungen eines bestimmten Hauses aus – also hinsichtlich der finanziellen und organisatorischen Möglichkeiten, des Standorts, des Umfelds, der Historie? Denn tatsächlich lassen sich Äpfel nicht mit Birnen vergleichen. Über ein kleines Haus mit unfassbar wenig Geld im ländlichen Bereich muss man sich ganz anders unterhalten als über eine Staatsbühne in Berlin. Gerade an den kleinen Häusern wird oftmals unter hohem Spardruck unglaublich wertvolle, vielfältige Arbeit geleistet – und das in einer Umgebung, in der sie vielleicht gar nicht unbedingt von jedem gewollt und von der Politik in Konkurrenz zu Kitas, Schwimmhallen und anderen regionalen Angeboten gesetzt wird. Wenn jemand unter diesen Bedingungen Herausragendes leistet, mutig ist, sich aus dem Fenster lehnt und nicht beim ersten Gegenwind umblasen lässt, richte ich da erst einmal meinen Scheinwerfer drauf.
Tessa Hart: Unter den Bewerbungen fanden sich natürlich sehr viele Theater, die eine starke, beeindruckende Arbeit machen. Um herauszukristallisieren, wer für mich tatsächlich als Preisträger infrage kommt, habe ich mir zuerst die Frage gestellt, in welchem Kontext das jeweilige Haus arbeitet – und zwar sowohl konkret örtlich als auch fördertechnisch: Wie viele Gelder bekommt es, wie sicher sind diese Mittel, was wird damit gemacht? Eine zweite Richtlinie war dann, was die Bewerberinnen oder Bewerber jeweils selbst als besonders wichtig hervorgehoben haben – und wie authentisch sie an diesen Prioritäten arbeiten. Wird zum Beispiel nur behauptet, dass sie neue Publika erreichen oder sich diverser aufstellen möchten, oder geht aus den Bewerbungsunterlagen hervor, dass diese Prozesse wirklich in Angriff genommen wurden? Dabei lag mein Augenmerk nicht unbedingt darauf, ob schon irgendein abrechenbares Ziel erreicht ist, sondern tatsächlich auf der Ernsthaftigkeit und Glaubwürdigkeit des Vorhabens sowie darauf, welche Zwischenschritte und Umsetzungsweisen bereits erprobt werden.

Wir haben bis jetzt ausschließlich über die große Entscheidungsrunde gesprochen, in der die Jury final den Hauptpreis und die drei Auszeichnungen ausdiskutiert. Das ist aber nur der letzte Akt in einem komplexen Verfahren. Was findet vorher statt?
Hart: Zuerst sind die neun Jurymitglieder in drei verschiedene Fachjurys aufgeteilt: eine für Stadttheater und Landesbühnen, eine für freie Produktionshäuser und eine für Privattheater und Gastspielhäuser. Jede Fachjury besteht also aus drei Personen, die erst einmal nur die Bewerbungen aus ihrer eigenen Sparte sichten und sich dann in einer Sitzung auf jeweils drei Vornominierungen einigen.
So kommt die Shortlist von neun Theatern zustande.
Hart: Genau. Und diese neun Bewerbungen gehen dann in die große Runde, wo sie von allen neun Jurymitgliedern noch einmal intensiv gesichtet, reflektiert und analysiert werden, bevor diese dann daraus den Hauptpreisträger und die drei Auszeichnungen ausdiskutieren.
Was war es denn, was letztlich den Ausschlag für die Schwankhalle Bremen als diesjährige Hauptpreisträgerin gab?
Lang: Die enorme Vielfalt dieses Hauses mit nationalen wie internationalen Eigen- und Koproduktionen nebst Gastspielen in unterschiedlichen Genres! Schon allein das ist ja eine Aufgabenfülle, die man eher einem Stadt- oder Staatstheater zurechnen würde. Und dann kommt bei der Schwankhalle noch dieser ganze Bereich der Nachwuchsförderung, der Jugendarbeit, der partizipativen, generationenübergreifenden Projekte mit den neu gedachten Formen der Versammlung, des Zugangs und der Öffnung hinzu. In der nicht ganz so großen Stadt Bremen, also abseits der klassischen Hotspots, übernimmt das Haus da mit überschaubaren finanziellen Mitteln eine derart breite und vielfältige Aufgabe, dass die Bewerbung wirklich herausstach.
