Die Intendantinnen des Hessischen Landestheaters Marburg Eva Lange und Carola Unser-Leichtweiß im Gespräch mit Christine Wahl über neue Dramatik, das Marburger Modell und die Aufgaben einer „Botschafter*in für Kollaboration und Unsinniges“.
Eva Lange, Carola Unser-Leichtweiß, herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung in der Kategorie “Stadttheater und Landesbühnen” – und zum Auftakt eine Frage, die in dieser Interviewreihe allen Ausgezeichneten gleichermaßen gestellt wird: Können Sie eine Besonderheit benennen, die Ihr Theater unverwechselbar macht, ein Alleinstellungsmerkmal, das wirklich nur bei Ihnen existiert?
Carola Unser-Leichtweiß: Wirklich speziell an unserem Theater ist, dass es sich in einem Wehrersatzgebäude befindet, das eigentlich als Interimsspielstätte gedacht war – seit 1990! Natürlich finde ich es total schön, dass wir ein ehemals militärisches Gebäude auf diese Weise neu besetzen. Aber der mittlerweile 34-jährige Übergangszustand prägt den Ort schon stark. Im Prinzip herrscht bei uns – als Landestheater – ein ähnliches Flair wie in der Freien Szene, aus der ich komme. Wir sind unserem starken und großartigen Ensemble sehr dankbar für seine Arbeit unter diesen Bedingungen.
Eva Lange: Theater auf hohem Niveau mit vielen Eigenkünstler*innen in einem Provisorium – so ist es! Und ich würde noch ergänzen, dass wir unser Haus als ein großes Ensemble verstehen, in dem jeder künstlerisch mitdenkt.
Unser-Leichtweiß: Bei uns gibt es alle theaterüblichen Abteilungen – die Schlosserei, die Schreinerei, die Maskenabteilung und so weiter –,aber sie werden zum Teil nur von einem oder zwei Menschen besetzt. Und immer wieder steht man tief beeindruckt davor und denkt: Unglaublich, was die Kolleg*innen hier schaffen, wie sie das alles hinbekommen!
Dank unserer Gewerke war beispielsweise das Thema „Nachhaltigkeit“ schon lange, bevor es zum gesellschaftlichen Trend wurde, eine selbstverständlich gelebte Praxis bei uns. Weil wir wenig Geld haben, wird vieles recycelt.
Es gibt an Ihrem Haus eine Personalstelle, die man von keinem anderen Theater kennt, nämlich eine „Botschafter*in für Kollaboration und Unsinniges“. Was verbirgt sich hinter diesem wunderbaren Jobprofil?
Unser-Leichtweiß: Eva und ich machen ja schon eine Weile zusammen Theater, und es war nie die Chefposition als solche, die uns interessierte, sondern vielmehr die Möglichkeit, eine Bande von Leuten zu versammeln, die Lust haben, eine Stadt zu gestalten – und im Fall des Hessischen Landestheaters eben zusätzlich noch den ländlichen Raum. Unsere jetzige „Botschafter*in für Kollaboration und Unsinniges“, Romy Lehmann, war von Anfang an eine Verbündete, die aber mit ihren vielen Interessen und Fähigkeiten als Performer*in, Schauspieler*in und Regisseur*in nie in ein vorgefasstes Jobprofil passte.
Kann man sich die Position als eine Art produktiven Störfaktor vorstellen, der einen immer wieder daran erinnert, in einer Institution der Kunst allen unkünstlerischen Alltagszwängen zum Trotz nicht in Routinen zu verfallen?
Lange: Genau das ist die Idee – und ich muss selbstkritisch sagen, dass es Situationen gibt, in denen das eine echte Herausforderung ist! Zum Beispiel, wenn der theoretisch hocherwünschte und eigens dafür engagierte „Störfaktor“ ausgerechnet im Endprobenstress vor einer Premiere den Raum betritt und einen daran erinnert, dass Dramaturgie-Sitzungen eigentlich zum Nachdenken anberaumt werden statt dafür, in hohem Tempo To-do-Listen abzuarbeiten (lacht). Aber genau das ist ja das Besondere daran!
Unser-Leichtweiß: Und ich muss selbstkritisch sagen: Diesem Anspruch der konstruktiven Störung im Pragmatismus des Alltags konnten wir nicht gerecht werden. Wie heißt es bei Hölderlin so schön? „Größeres wolltest auch du…“
Von Hölderlin zu Beckett: Ein Projekt, das Romy Lehmann an Ihrem Haus etabliert hat, trägt den wunderbaren Titel „Watch me fail“. Lautet der Plan, dem besagten Dramatiker gemäß, also: „Scheitern, wieder scheitern, besser scheitern“?
Unser-Leichtweiß: Es ging um einen Gegenentwurf zu diesem permanenten Erfolgsdruck, der überall herrscht. Denn auch im Theater, wo der Satz „Scheitern muss erlaubt sein“ ja zum Standardrepertoire gehört, muss das Sommertheater de facto funktionieren, damit wir die Zahlen erreichen, die in der Kulturpolitik von uns erwartet werden und auf die wir uns auch verpflichtet haben.
Lange: Als wir 2018 hier anfingen, waren wir das erste Zuwendungshaus in Deutschland, das von einer weiblich gelesenen Doppelspitze geführt wurde. Das vergisst man heute leicht, weil sich Kollektivleitungen am Theater inzwischen stärker etabliert haben. Aber insofern handelte es sich auch bei unserem Modell erst einmal um einen Versuch, dem – wie allem Neuen – die Möglichkeit des Scheiterns durchaus inhärent war.
Mittlerweile gilt das „Marburger Modell“ branchenweit als Vorbild. Worin besteht Ihr Erfolgsgeheimnis?
Lange: Wir sind zwei komplett gleichberechtigte Vollzeit-Intendantinnen, die exakt dasselbe verdienen und beide zu hundert Prozent personelle, zu hundert Prozent künstlerische und zu hundert Prozent finanzielle Entscheidungsgewalt haben. Das ist uns sehr wichtig. Dabei haben wir für uns eine Regel aufgestellt: Wenn wir eine Entscheidung treffen, müssen wir beide wirklich zu hundert Prozent dahinterstehen. Wenn ich zum Beispiel von einer Sache absolut überzeugt bin, Carola aber nur 97prozentig, lassen wir es – oder reden so lange, bis sich die fehlenden drei Prozent doch noch einstellen.
Eine anspruchsvolle Praxis!
Unser-Leichtweiß: Ja, sie verlangsamt die Entscheidungsprozesse – verringert dafür aber den Fehlerquotienten.
Wie oft sind Sie uneins?
Lange: Wir sind sehr verschiedene Regisseurinnen – und auch höchst unterschiedliche Menschen –, aber darüber, wo wir mit diesem Theater hinwollen, herrscht überwiegend Einigkeit. Ich kann mich zum Beispiel an kein Vorsprechen erinnern, bei dem Carola von jemandem absolut begeistert gewesen wäre und ich überhaupt nicht oder umgekehrt. Ich hatte mir vorgestellt, dass wir als Leitungsteam häufiger miteinander ringen. Aber vielleicht hängt es damit zusammen, dass wir beide studierte Theolog*innen sind. (Lacht).
Unser-Leichtweiß: Aber wir können schon auch streiten. Und künstlerisch unterscheiden wir uns wirklich total voneinander – was man übrigens auch anhand dieser Studienvergangenheit sehr plastisch beschreiben kann. Eva ist die Frau des Wortes, der Klarheit und der puristischen Stringenz – also evangelisch –, während ich zu sinnlicher Opulenz neige.
Und damit zum Katholizismus. Die Gretchenfrage wäre also geklärt – wie aber halten Sie`s mit der künstlerischen Programmatik?
Lange: Das würden jetzt wahrscheinlich viele Intendant*innen sagen – und ebenso unser dramaturgisches Team –, aber es ist auch tatsächlich so: Wir wollen Theater für die Stadt machen, in der wir leben und arbeiten. Wir sind große Vernetzerinnen und haben den Anspruch mitzubekommen, was die Menschen umtreibt, weil wir unser Theater als Ort verstehen, an dem diese Themen über die Kunst besprechbar werden.
In der Selbstbeschreibung Ihres Hauses rekurrieren Sie auf Erwin Piscator, der wichtige Lebensjahre in Marburg verbrachte, und seine Vorstellung vom Theater als Kristallisationspunkt der Stadtgesellschaft.
Unser-Leichtweiß: Klar wären wir alle gern die Dionysien, die einmal im Jahr stattfinden und zu denen alle pilgern – weltbewegende Diskussionen im Anschluss inklusive. Aber ich denke, das kann wirklich nur eine Vision sein. Tatsächlich ist man als Theater weit davon entfernt, diesen „Kristallisationspunkt“ zu verkörpern. Was wir aber tun ist, die Stadtgesellschaft zu analysieren und uns die Frage zu stellen: Wie laden wir die Menschen zu uns ein? Wie schaffen wir es, unterschiedliche Publika anzusprechen? Und wie können wir ein Ort der Demokratie sein? Wir haben zum Beispiel vor jeder Vorstellung eine Einführung, damit Menschen sich informiert fühlen, egal mit welchem Bildungshintergrund sie kommen. Und es gibt einen Zuschauer*innenrat, der uns durch die ganze Spielzeit begleitet und sowohl auf inhaltlicher als auch auf organisatorischer Ebene beschreibt, was er wahrgenommen hat. Das sind pro Saison bis zu 13 Personen, die mit einer Begleitperson kostenlos die Vorstellungen besuchen können.
Lange: Und es ist wirklich hochinteressant, was der Zuschauer*innenrat zurückmeldet – das empfinde ich dann schon als eine Art Kristallisationsmoment: Was wurde vor Corona beobachtet, was jetzt, und wie wichtig ist es tatsächlich, wie der Wein im Foyer schmeckt, dass der Stuhl knarrt und dass das Feuerwehr-Notausgangschild so hell ist? Das sind Punkte, die die Menschen sehr beschäftigen, bevor sie überhaupt über die Aufführung sprechen, und diese Rückmeldungen finde ich großartig!
In Ihrem Programm scheint ein besonderer Schwerpunkt auf neuer Dramatik zu liegen.
Lange: Das stimmt, die Förderung von Autor*innen liegt uns am Herzen. Wir sind dankbar, dass so besondere Autor*innen wie Anah Filou oder Amir Gudarzi immer wieder für uns schreiben. Zudem ist es uns – Stichwort Jugend- und Innovationshype – wichtig, die gestandenen Dramatiker*innen nicht aus dem Blick zu verlieren, und dasselbe gilt für die Regisseur*innen, besonders die weiblich gelesenen.
Ein gleichermaßen wichtiger Teil Ihres Programms sind internationale Koproduktionen, eine besondere Zusammenarbeit verbindet Sie zum Beispiel mit Georgien.
Unser-Leichtweiß: Obwohl wir wirklich ein sehr kleines Haus sind, finden wir diese internationale Brückenbildung enorm wichtig. Deshalb haben wir auch von Anfang an alles darangesetzt, dafür Mittel aufzutreiben. Letztes Jahr hatten wir zum Beispiel das große Glück, in einem Kulturprogramm des Auswärtigen Amtes gefördert zu werden und – initiiert von unserer Kollegin und künstlerischen Freundin Nino Haratischwili, mit der wir schon seit einigen Jahren zusammenarbeiten – eine Koproduktion mit dem Royal District Theatre in Tbilissi realisieren zu können: „Warum das Kind in der Polenta kocht“, die Geschichte eines rumänischen Zirkuskindes. Wir durften mehrere Gastspiele aus Georgien einladen, was für die dortige Theaterszene, die dadurch international wahrgenommen wird, genauso toll ist wie für uns, weil es die eigene Perspektive weitet und nicht nur die georgische Community zum Hessischen Landestheater bringt.
Was bedeutet Ihnen die Theaterpreis-Auszeichnung?
Unser-Leichtweiß: Wir freuen uns riesig!
Lange: So sehr, dass ich tatsächlich überlegt hatte, zu unserem Interview Konfetti mitzubringen und bei jeder Frage ein bisschen in die Luft zu werfen (lacht).
Haben Sie schon Investitionspläne für das Preisgeld?
Unser-Leichtweiß: Wir kämpfen seit 2018 für eine neue Probebühne, und es sieht auch so aus, als würden wir im nächsten Jahr eine bekommen. Neben der Verantwortung, dort einen guten Raum zu schaffen, in dem sich alle Abteilungen wohlfühlen, würden wir dafür gern auch ein paar Mittel in die Hände der künftigen Nutzer*innen, sprich unserer Mitarbeiter*innen, legen.
Außerdem möchten wir ein weiteres Projekt mit Georgien an den Start bringen. Eine freie Gruppe aus Tbilissi interessiert sich für unser Modell der Klassenzimmerstücke, und wir würden ihnen im Rahmen einer Koproduktion gern ein Kick-off für ihr erstes Projekt geben. Außerdem fänden wir es super, wenn unsere Techniker*innen neue Arbeitsjacken bekämen. Die sind nämlich ziemlich teuer, die konnten wir uns bisher nur einmal leisten.