Kulturstaatsministerin Claudia Roth im Gespräch über den Theaterpreis des Bundes 2024 mit Christine Wahl
Frau Roth, eine Fachjury hat aus dutzenden Bewerbungen vier Häuser als Theaterpreisträger des Bundes 2024 benannt. Sind Sie, die Sie selbst über hauptberufliche Theaterexpertise verfügen, mit den Entscheidungen einverstanden?
Es war nicht einfach, aus den vielen sehr guten Bewerbungen die Gewinner*innen zu ermitteln. Die hochkarätige Jury hat es sich wirklich nicht leicht gemacht bei ihrer Entscheidung, in vier langen Sitzungen wurde sehr lebhaft diskutiert. Das Ergebnis spiegelt die lebendige Vielfalt des Theaterschaffens in Deutschland wider. Den Vorschlägen der Expert*innen bin ich daher sehr gern gefolgt.
Die Formate und Ästhetiken der ausgezeichneten Bühnen sind vielfältig; die künstlerischen Leiterinnen der Schwankhalle Bremen, die den diesjährigen Hauptpreis gewonnen hat, beschreiben ihr Haus zum Beispiel als einen Ort, an dem „Shantychor, Bootsballett und zeitgenössische Performance aufeinandertreffen“. Von welcher Art Theater fühlen Sie sich am meisten angesprochen?
Ich bin eine leidenschaftliche und häufige Theaterbesucherin. Und ich habe im Theater so viele beglückende Momente an so vielen unterschiedlichen Orten und Häusern erlebt, dass ich mich hier nicht festlegen kann. Ich liebe am Theater ja auch genau das: die große Vielfalt, die ständig für Überraschungen, neue Erkenntnisse und Erfahrungen sorgt.
Sie richten den Theaterpreis des Bundes – der von Ihrer Amtsvorgängerin Monika Grütters ins Leben gerufen wurde – dieses Jahr zum zweiten Mal aus und haben einige Modifikationen vorgenommen. Zum Beispiel, dass es neben einem Hauptpreis drei spezifische Auszeichnungen für verschiedene Theaterformen bzw. -strukturen gibt, nämlich freie Produktionshäuser, Privattheater und Gastspielhäuser sowie Stadt- und Landesbühnen. Wie haben sich diese Veränderungen bewährt?
Beim Theaterpreis des Bundes geht es nach wie vor darum, die Vielfalt des Theaterschaffens in Deutschland zu würdigen. Dabei haben wir weiterhin besonders Häuser jenseits der Metropolen im Blick. Durch die Neuausrichtung, die wir letztes Jahr vorgenommen haben, ist der Theaterpreis des Bundes zu einem „Innovationspreis“ geworden. Die Innovationskraft ist jetzt also ein entscheidendes Kriterium. Diese Weiterentwicklung ist auf überaus positive Resonanz gestoßen, es war also die richtige Entscheidung.

Ein weiterer Punkt ist, dass die Auszeichnung unter Ihrer Ägide offensichtlich jährlich verliehen wird statt wie vorher biennal – was sicher zur Steigerung des symbolischen Kapitals der darstellenden Kunst beiträgt. Was bedeutet Ihnen als Kulturstaatsministerin der Preis, welche Position kommt dem Theater in Ihrem Ministerium zu?
Grundsätzlich ist der Bund ja gar nicht zuständig für das fantastische und vielfältige Theaterschaffen in Deutschland. Dafür sind laut unserem Grundgesetz die Kommunen und Länder verantwortlich. Trotzdem hat das Theater einen hohen Stellenwert in der Kulturpolitik des Bundes: Wir finanzieren unter anderem mit dem Berliner Theatertreffen das Gipfeltreffen deutschsprachiger Bühnen und fördern durch verschiedene Programme zahlreiche Theaterkünstler*innen in ihrem Schaffen. Auch die von uns finanzierte Kulturstiftung des Bundes hat mehrere Förderprogramme, von der die Theaterszene stark profitiert.
Der Theaterpreis des Bundes hat für mein Haus und mich eine große Bedeutung. Ich habe mich dafür stark gemacht, dass diese Auszeichnung während meiner Amtszeit in drei aufeinanderfolgenden Jahren (2023, 2024, 2025) verliehen werden kann. Und ich freue mich sehr, dass es gelungen ist, für das Jahr 2024 eine zusätzliche Ausschreibung zu ermöglichen. Das ist gerade in diesen haushaltspolitisch extrem schwierigen Zeiten ein großer Erfolg – und ein Zeichen der Wertschätzung der Theaterkunst.
Was bedeutet das Theater Ihnen persönlich?
Ich war schon immer ein großer Theater-Fan. Schon als junges Mädchen haben mich meine Eltern, die ein Theaterabonnement hatten, oft mitgenommen, wenn sie eine Vorstellung besucht haben. Später habe ich dann am Landestheater Schwaben in Memmingen als Dramaturgie- und Regieassistentin hospitiert und gearbeitet. Und dann habe ich für ein Engagement an der Städtischen Bühne Dortmund mein Studium nach dem zweiten Semester abgebrochen, bin rein in die Praxis gegangen. Ich habe dort als Dramaturgie-Assistentin im Schauspiel und in der Dramaturgie im Kinder- und Jugendtheater gearbeitet. Leiter war Peter Möbius, der ältere Bruder von Rio Reiser. Danach war ich in Unna mit dem Hoffmanns Comic Teater aktiv. In meiner Zeit im Ruhrgebiet war ich gänzlich in der Theaterwelt unterwegs. Die Zeit hat mich sehr geprägt, und meine große Liebe zum Theater ist bis heute geblieben.
Das Anforderungsprofil für den Theaterpreis des Bundes liest sich umfangreich, gefragt ist laut Ausschreibungstext „ein herausragendes Programm …, das sich durch überzeugende ästhetisch-künstlerische Fortentwicklung in zeitgenössischen Fragestellungen der (Stadt-)Gesellschaft, der multiperspektivischen Publika, der ökologischen und sozialen Achtsamkeit und/oder technologisch-digitaler Innovationen auszeichnet“. Welche dieser Anforderungen ist Ihnen besonders wichtig? Hat am Ende eher die Theaterdigitalisierungsweltmeisterin, die ästhetische Bühnen-Innovatorin, der Multiperspektivische oder der ökologisch Achtsame die größten Chancen?
Den schwierigen und langwierigen Prozess der Entscheidungsfindung habe ich schon beschrieben. Es geht bei der Beurteilung nie um einzelne Kriterien, die gegeneinander abgewogen werden. Stattdessen zählt immer die Gesamtbetrachtung im Kontext der anderen Bewerbungen und der Kriterien des Preises. Entscheidend ist dabei ein ästhetisch und thematisch interessantes und innovatives Gesamtprogramm. Wichtig ist auch der Dialog mit dem jeweiligen Publikum vor Ort.
Der Theaterpreis des Bundes geht für die ausgezeichneten Häuser mit einer naturgemäß einmaligen finanziellen Unterstützung einher. Wie könnte es gelingen, Dinge, die durch ihn angestoßen werden, gegebenenfalls zu verstetigen?
Mit dem Theaterpreis des Bundes wollen wir die Häuser dazu ermutigen, Experimente zu wagen und innovative Programme umzusetzen. Die Preisträger*innen verpflichten sich ja auch dazu, die Preisgelder für die weitere künstlerische Arbeit oder für die Verbesserung der künstlerischen Produktionsbedingungen zu verwenden. Dadurch unterstützt der Theaterpreis des Bundes ganz konkret die Theaterarbeit vor Ort. Die Gewinner*innen haben durch die Auszeichnung die Möglichkeit, neue Wege zu gehen, aktuelle Themen auf die Bühnen zu bringen, Räume für Begegnung und Austausch zu schaffen und mit Kunst vor Ort für lebendige Vielfalt zu sorgen.
Der Theaterpreis des Bundes ist in erster Linie ein Preis für „Spielhäuser, die sonst nicht im Zentrum der bundesweiten, öffentlichen Wahrnehmung stehen“ – es soll also vor allem auch die wichtige Arbeit in der Fläche gewürdigt werden. Wie oft schaffen Sie es bei Ihrem eng getakteten Terminplan als Kulturstaatsministerin überhaupt selbst ins Theater zu gehen – und dann eventuell auch noch außerhalb Berlins, wo Sie arbeiten, bzw. eben jenseits der „Metropolen“?
Seit ich Staatsministerin bin, ist mein Terminkalender noch voller geworden als zuvor – daher kann ich leider nicht so oft ins Theater gehen wie ich gerne möchte. Grundsätzlich besuche ich sehr gerne die Berliner Theater, aber auch das Theater in Augsburg, die Nibelungen-Festspiele und viele andere. Manchmal besteht die Möglichkeit, sich Theaterstücke nach der Eröffnung von Festivals anzuschauen, wo ich normalerweise als Staatsministerin und Politikerin eine Rolle habe. Ich empfinde es als großes Privileg, in diesen Genuss zu kommen.
Über welchen Theaterabend haben Sie – ganz gleich, wo – zuletzt am längsten nachgedacht und warum?
Über einen Theaterabend habe ich besonders lange nachdenken müssen: Das Stück „And Now Hanau“, eine Koproduktion der Theater Münster und Oberhausen mit den Ruhrfestspielen Recklinghausen, in Kooperation mit dem Maxim Gorki Theater in Berlin. Es ist kein klassisches Schauspiel, sondern eine Art Dokumentationstheater, das niemanden kalt lässt angesichts der Behördenversagen vor, während und nach dem rechtsextremen Morden von Hanau. Der Inszenierung gelingt es, die Lücken und Mängel in unserem demokratischen Rechtsstaat in enger Verbindung von Publikum und Schauspieler*innen darzulegen.
Der Theaterpreis 2024 wird in einer Zeit globaler Krisen und knapper werdender Kassen verliehen, in der auch die Kultur finanziell zunehmend unter Druck gerät. Mit dem Haushaltsentwurf 2025 sieht die Bundesregierung Kürzungen gegenüber dem Vorjahreshaushalt speziell im Feld der Freien Künste vor. Welche Überlegungen gibt es im Bundeskulturministerium aktuell zu diesem Thema?
Die insgesamt extrem angespannte Haushaltslage spiegelt sich auch im Kulturetat wider.
Für die Freie Szene konnten wir über die letzten Jahre im Haushalt große Erfolge erzielen. Die Förderungen haben wir im Vergleich zur Vor-Corona-Zeit um über 30 Millionen Euro gesteigert – das sind rund 45 %. Darin enthalten ist u.a. auch der Theaterpreis.
Dabei profitiert die Freie Szene nicht nur von den vielen Einrichtungen, die der Bund direkt fördert. Auch die Kulturstiftung des Bundes und der Hauptstadtkulturfonds, die beide vom Bund getragen werden, spielen für die Freie Szene eine sehr große Rolle. Zudem gibt es noch die Stipendien für deutsche Künstler im Ausland und die von uns finanzierten Preise für Verlage, Buchhandlungen und Kinos – auch auf diesem Weg wird durch die Bundeskulturpolitik die Freie Szene unterstützt.
Der Regierungsentwurf wurde in diesem Jahr nach langen, anstrengenden und schwierigen Diskussionen beschlossen. Der Entwurf war Zwängen unterworfen wie kein Haushalt in den letzten zehn Jahren. Auch jetzt klafft noch eine nie dagewesene milliardenschwere Deckungslücke. Jetzt kommen die parlamentarischen Beratungen zum Haushalt, der Beschluss ist für November vorgesehen. Mein Haus und ich werden weiter für die Kultur und ganz besonders für die Freie Szene kämpfen – und wir brauchen dafür die Unterstützung der Kulturszene. Ich habe das Bündnis internationaler Produktionshäuser sowie die Bundeskulturfonds zu einem Gespräch eingeladen. Politik und Kulturszene müssen jetzt an einem Strang ziehen.
Fällt Ihnen eine Künstlerin, ein Künstler oder eine Gruppe ein, der oder die unsere Zeit aus Ihrer Sicht besonders gut auf den Punkt bringt?
Ich bin seit meiner Jugend ein sehr großer Fan von Bert Brecht. Gerade jetzt, in diesen turbulenten Zeiten, wo sich Krisen überlappen und rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien in Deutschland und Europa Wahlen gewinnen, gehen mir seine Gedichte und Theaterstücke sehr nahe. Seine Worte „Ändere die Welt, sie braucht es“ waren schon immer mein Lebensmotto – und diese Worte bringen den Zustand unserer Welt auf den Punkt.
Das Interview wurde schriftlich geführt, Redaktionsschluss: 10. September 2024